Nach über vier Monaten Krieg in Europa mit allen unübersehbaren Auswirkungen auf Märkte, Versorgung und Sicherheitspolitik sollte eigentlich jeder in besagtem Kontinent die sprichwörtliche Zeitenwende begriffen haben
Zu diesen Einsichten, an denen man eigentlich nicht vorbeisehen kann, zählt auch die neue Rolle mancher Rohstoffe als geostrategisches Instrument, das im derzeitigen Konflikt gezielt eingesetzt wird – zu spüren bei Gas und Öl, aber auch bei Getreide. Grund genug, die heimische Erzeugung von Energie und Lebensmitteln zu stärken und zu stabilisieren. Die Europäische Kommission aber tut genau das Gegenteil und schlägt allen Ernstes vor, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln drastisch zu reduzieren, in „Schutzgebieten“ vollständig zu verbieten und ansonsten mit massiven bürokratischen und zweckfreien Schikanen zu überziehen.
Herzlichen Glückwunsch, Europa!
Damit nicht genug, parallel dazu sollen land- und forstwirtschaftliche Flächen in erheblichem Umfang der Nutzung entzogen, renaturiert oder wiedervernässt werden. Die Konsequenzen sind absehbar und für Deutschland bereits am Beispiel des verunglückten 2019 vorgeschlagenen Insektenschutzpaketes durchgerechnet: Über 2 Mio. ha ohne Pflanzenschutz, Rückgänge der Getreideerzeugung von einigen Mio. t, kein Wein-, Obst- und Gemüsebau am Kaiserstuhl und in vielen anderen Anbaugebieten sowie indirekte Rückwirkungen der Flächenverluste. Auf die EU darf hochgerechnet werden – und es wäre durchaus denkbar, dass bei vollumfänglicher Umsetzung der Vorschläge dabei eine Größenordnung erreicht werden würde, die in der mengenmäßigen Konsequenz mit den bisherigen ukrainischen Exporten vergleichbar wäre. Die großen Getreideexporteure am Weltmarkt wird das nicht stören, werden doch deren Chancen durch die europäische Selbstbeschränkung deutlich besser. Zu den Profiteuren wird auch Russland gehören, das sich mit gestohlenem Getreide aus der Ukraine noch ungehinderter politische Unterstützung und Gefügigkeit in Afrika, im Nahen Osten und überall dort, wo die Kaufkraft fehlt, erkaufen kann – herzlichen Glückwunsch, Europa!
Ein schwer erträglicher Realitätsverlust
Die Europäische Kommission demonstriert damit einen schwer erträglichen Realitätsverlust, zumal als Rechtfertigung der Vorschläge und zur Abmilderung der Auswirkungen lediglich wolkige Absichtsbekundungen präsentiert werden. Der European Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie als politischer Rahmen der Vorschläge hatten bereits ein massives Defizit bei konkreten Ansetzungen zur Umsetzung und glänzten durch den aktiven Verzicht auf eine qualifizierte Folgenabschätzung. Das setzt sich hier fort – und zwar in Form eines ideologischen und sturen Festhaltens an Pflanzenschutz-Pauschalkritik und Wildnisromantik. Man trägt eben Scheuklappen im Elfenbeinturm. Etliche von der Inflation geplagte Verbraucher, Landwirte und Bürger dürften diesen Politikstil als ignorant und überheblich wahrnehmen – nicht zuletzt deshalb, weil hier ein massiver Vertrauensbruch stattfindet. Die europäischen Schutzgebiete wurden mit dem politischen Versprechen an die Landwirte etabliert, dass die gute fachliche Praxis Bestand hat und dass etwaige Beschränkungen über Vertragsnaturschutz ausgeglichen werden sollen. Das ist der Stoff, aus dem Politikverdrossenheit gemacht ist.
Funktionierende Ansätze statt weltanschaulicher Scheuklappen
Die deutsche Agrarpolitik diskutiert in diesen Wochen über die Frage, ob unproduktive Flächen, 4 Prozent Stilllegung und Fruchtwechsel-Regeln richtig und sachgerecht sind. Sicherlich muss man sich damit auseinandersetzen, aber in Anbetracht der Tragweite dessen, was die Kommission hier vorhat, sind das eher Kleinigkeiten. Ja, der Klimawandel duldet keinen Aufschub und ja, wir müssen etwas tun, um Biodiversität in der Agrarlandschaft besser zu organisieren. Diese Herausforderungen sind mit dem Krieg und seinen Folgen nicht verschwunden. Für beide Aufgaben braucht es aber Landwirtschaft und Landnutzung und vor allem funktionierende Ansätze statt weltanschaulicher Scheuklappen. Wer meint, dass nicht mehr, sondern weniger Landwirtschaft der richtige Weg sei, der hat den Schuss noch nicht gehört.
Zeitenwende auch in der Vermarktungskette und am Regal
Die Zeitenwende macht sich derzeit auch in der Vermarktungskette und am Regal bemerkbar. Die Umsätze mit Lebensmitteln sinken; bei gleichen Mengen und höheren Preisen deutet das auf einen verstärkten Griff der Verbraucher ins Niedrigpreissegment hin. Auch wenn es niemand so offen ausspricht: Wir laufen in einen praktischen Belastungstest für die Bereitschaft der Verbraucher, höhere Standards zu honorieren und letztendlich zu finanzieren. Regionalität oder heimische Herkunft sind offenbar von diesem Effekt nicht so stark betroffen, geraten aber aus anderen Gründen unter Preisdruck. Vorsichtig formuliert: Der Lebensmittelhandel lässt derzeit nicht erkennen, dass seine Forderungen und Ankündigungen zur verstärkten Berücksichtigung heimischer und hochwertiger Ware ernst zu nehmen sind. Erdbeeren und Spargel waren das jüngste Beispiel für das gezielte Einlisten ausländischer Ware, um heimische Preisspitzen zu brechen. Das mag dem Markt geschuldet sein und der üblichen Preisdrückerei entsprechen, trotzdem muss man das zum Anlass nehmen, die zahlreichen in der Vergangenheit zugestandenen Extraanforderungen ohne konditionelle Gegenleistungen wieder zurückzusetzen.
Lebensmitteleinzelhandel steht auf der Bremse
Obwohl es eigentlich naheliegt, dass sich in einer solchen Stresssituation für die Vermarktungskette die Akteure Landwirtschaft, Vermarkter und Lebensmittelhandel zu gemeinsamen Lösungen und Positionen zusammenfinden, tritt die zu diesem Zweck gegründete Koordinationszentrale Handel-Landwirtschaft (ZKHL) auf der Stelle. Die Gründe sind zahlreich, aber der wesentliche Punkt ist die konsequente Ablehnung jeglicher konkreter Projektvorschläge durch den Lebensmitteleinzelhandel. Bleibt das so, muss man die Grundsatzfrage für diese Form der Zusammenarbeit stellen. Über die ZKHL hinaus ist es aus Sicht der Landwirtschaft übrigens auch konsequent und zwingend, jegliche zusätzlichen Standards, Anforderungen oder Maßnahmen in irgendwelchen Qualitätsmanagement-Systemen abzulehnen, es sei denn, diese sind durch gesonderte Honorierung abgedeckt oder erbringen Synergien, weniger Bürokratie und Aufwand auch für die Landwirtschaft. Nicht jede Zusatz-Zertifizierung ist dauerhaft sinnvoll und muss um jeden Preis fortgeführt werden; Leitfäden und Checklisten dürfen auch einmal schrumpfen und müssen hin und wieder vom Ballast befreit werden.