Vermarktung Rico Schlegel lässt Rinderviertel im Wert von 100.000 Euro im „Dry-Age“-Verfahren reifen. Das Fleisch vermarktet er auch übers Internet. Volontärin Vienna Gerstenkorn hat den „Fleischveredler“ im niedersächsischen Bösel besucht.
Vorbei an Vechta und Cloppenburg geht es in Richtung Bösel. Jeder zweite Lastwagen rauscht mit Futter, Gülle oder Tieren vorbei, jedes zweite Gebäude ist ein Landhändler oder ein Stall. Hier pulsiert die Landwirtschaft. Mitten drin, in einem Industriegebiet in Bösel, pulsiert – etwas langsamer – die Liebe zu edlem Rindfleisch. „True Wilderness“, für manchen Niedersachsen kaum stolperfrei auszusprechen, hat Rico Schlegel sein Unternehmen genannt. Die „echte Wildnis“ bedeutet für ihn: Zurück zu den Wurzeln, zu gutem Geschmack und zu einer Rindfleischkultur.
Schlegel ist in Dresden geboren und hat sein Handwerk gelernt: Sein Weg führte ihn von der Realschule in die Ausbildung zum Fleischer und nach dem anschließenden Fachabitur mit dem Schwerpunkt Ernährung an die Hochschule Ostwestfalen Lippe ins Lebensmitteltechnologie-Studium. Danach hat Schlegel bei großen Schlachtunternehmen, darunter Tönnies und Wiesenhof, gearbeitet. Auf Zwischenstationen in Neuseeland, Kanada Russland und Österreich erlebte er, wie in diesen Ländern eine leidenschaftliche Fleischkultur gepflegt wird. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck beschloss er, etwas Eigenes aufzubauen. In der Wahlheimat Cloppenburg, wo seine Freundin Sylvia als Diplom-Trophologin ebenfalls in der Lebensmittelbranche arbeitet, wurde aus seiner Liebe zu gutem Rindfleisch ein Beruf.
Schlegel findet die Kühe und Rinder, die er nach ganz eigenen Kriterien auswählt, oft bei Hobby- und Nebenerwerbslandwirten. Ein muskulöser Charolais-Bulle oder eine ausgemästete Limousin-Färse, die jedes Viehhändler-Herz höher schlagen lassen – für Schlegel uninteressant: „Zu schnell gewachsen, zu wenig marmoriert.“ Er pickt sich im wahrsten Sinne die „Rosinen“ raus. So kann schon mal eine elfjährige Kuh im Reiferaum landen. „Das ist was Besonderes“, sagt Schlegel. „Kühe schmecken nicht nur nach dem, was sie gefressen haben, sondern nach Fleisch.“ Holstein-Friesian, Galloway, Angus, Pinzgauer, Simmental oder Kreuzungstiere entsprechen Schlegels Beuteschema.
„Rosinen“ statt „Trauben“
Über einen Ladenschlachter in Lorup (Emsland) landen die Rinderviertel und -rücken in einem von zwei Reiferäumen Bösel. 50 Rinder reifen hier nach dem so genannten Dry-Age-Verfahren. „Dazu kühlen und heizen wir wie verrückt“, sagt Schlegel. 800 Euro kostet die Energie dafür im Monat. Kalte Luft strömt an heißen Stäben vorbei, die ihr das Wasser entziehen. Die 1° C kühle Luft trockenet wiederum das Fleisch und lässt es dunkler werden, der Geschmack konzentriert sich. Im Reiferaum riecht es nussig und cremig, ungewöhnlich aber hochwertig. Das Fleisch könnte auch länger als fünf Wochen reifen. „Das ist wie bei einem guten Wein“, es wird dann noch besser, noch intensiver“, schwärmt Schlegel. Anhand von Fettauflage, Marmorierung und Fleischstruktur erklärt er, was jedes einzelne Stück Fleisch zum Unikat macht. Seine Kunden wissen oft nicht, von welcher Rasse das Fleisch stammt, sie verlassen sich auf ihn.
Mit Rind zum Sternekoch
„Einfach so“, durch die Weiten des Internets lässt sich kaum jemand von den Vorzügen eines sorgsam gereiften Bürgermeisterstücks überzeugen. Diese Erfahrung machte Rico Schlegel. Im Herbst 2012 hatte er mehr als 80.000 Euro in den Umbau der gepachteten Metzgereiräume in Bösel investiert – und kurz vor Weihnachten noch kein Kilo Fleisch verkauft. Auch drei Tage am Telefonhörer schafften kein Filet vom Reiferaum auf die Teller. Mit 30-Kilo- schweren Rinderrücken im Kofferraum fuhr Schlegel nach Hamburg. Ohne Voranmeldung stapfte er, „mit Kuhrücken auf der Schulter“, in die besten Restaurants der Stadt. Er überzeugte Köche von seinem Fleisch, die so bekannt sind, dass sie für ihren Namen an dieser Stelle ein Werbehonorar verlangen würden. Acht bis zwölf Tiere lässt Schlegel mittlerweile pro Woche schlachten. Endkunden haben an seinem Umsatz nur einen Anteil von zwei Prozent, der Weg über den Online-Shop rangiert in der gleichen Größenordnung.
Empfehlungen haben Schlegel weitere Küchentüren geöffnet. 15 bis 20 Prozent des in Bösel gereiften Fleisches kaufen Gastronomen, Caterer und Hoteliers. Den überwiegenden Teil verkauft Schlegel an Großhändler. Er veredelt den ganzen Schlachtkörper. Um die Vorderviertel noch besser zu vermarkten, macht er den Abnehmern Burger aus trockengereiftem Fleisch schmackhaft, das Kilo für über zehn Euro.
Mittelfristig ist ihm an guten Kontakten zu Rinderhaltern gelegen, die ihre Tiere nach seinen Vorstellungen halten und seine Anforderungen verstehen. Stress vor der Schlachtung ist das größte Ausschlusskriterium für Schlegel. „Das macht sich am Fleisch bemerkbar.“ Langfristig träumt er davon, eine eigene Rinderherde zu haben. Doch die Flächen rund um Bösel sind knapp und teuer.
Kurz vor der Gründung von „True Wilderness“ hat sich unsere Autorin an der Uni Göttingen mit der Online-Vermarktung von Rindfleisch beschäftigt. Weitere Vermarkter – vom Händler über den Schlachter bis zum Landwirt – finden Sie in der Masterarbeit unter www.landundforst.de
Vienna Gerstenkorn