Märkte und Politik ringen um Fassung

Märkte und Politik ringen um Fassung - Foto: Mühlhausen/landpixel
Foto: Mühlhausen/landpixel

Brexit­ Nach dem Schock wegen der Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union beginnt die Folgenabschätzung. Was heißt der Brexit für die Märkte und für das Agrarbudget? Ein Überblick über die Reaktionen.

Deutschland exportierte im vorigen Jahr Agrargüter und Nahrungsmittel im Wert von 4,8 Mrd. Euro in das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. Das sind etwa sechs Prozent seiner Ausfuhren in diesem Sektor. Innerhalb der EU lag das Vereinigte Königreich damit auf Platz vier der wichtigsten Abnehmer. Der Handelssaldo zwischen Exporten und Importen stieg zugunsten der deutschen Seite stetig an und ist mit fast 3,4 Mrd. Euro  so hoch wie bei keinem anderen Land. Zudem ist London ein Nettozahler für den gemeinsamen Haushalt.

Details völlig ungeklärt
Wie und in welchen Schritten der Austritt erfolgen wird, ob Anschlussvereinbarungen getroffen werden und welche Übergangsfristen dann gelten, muss im Detail verhandelt werden. Eine der ersten Einschätzungen über mögliche Auswirkungen des britischen Exits kam vom Braunschweiger Thünen-Institut (TI). Nach dessen Analysen wird der Handel mit unverarbeiteten Agrarprodukten nur geringfügig betroffen sein. Er macht allerdings auch nur einen sehr geringen Teil des Handels aus. Bei verarbeiteten Nahrungsmitteln hingegen kann es einen deutlichen Rückgang geben, schätzen die Braunschweiger Experten. Deutschland könnte 30 % seiner Nahrungsmittelexporte nach Großbritannien einbüßen, was einem Rückgang um 1,2 Mrd. Euro entspricht.

Die Agrarökonomen gehen bei ihren Annahmen vom ungünstigsten Fall aus, in dem der Handel nicht durch Freihandelsabkommen oder innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) begünstigt ist. Stattdessen wurde angenommen, dass der Warenaustausch zu den gegenwärtigen Zollsätzen der Welthandelsorganisation (WTO) stattfinden wird und Großbritannien somit eine Stellung wie derzeit die USA oder China innehabe.

Der Leiter für Marktanalyse am TI, Dr. Martin Banse, erläuterte: „Es wird Anpassungsreaktionen geben, die dazu führen, dass die Hälfte dieser nicht mehr im Vereinigten Königreich abzusetzenden Produkte Käufer auf anderen Märkten finden.“ Das bedeute, dass der deutsche Agrarexport an verarbeiteten Agrarprodukten nur um rund 650 Mio. Euro sinken werde. Aufgrund dieser Anpassungsreaktionen dürften die Wirkungen auf das Preisniveau am deutschen Agrarmarkt eher als relativ gering eingeschätzt werden.

Die rein finanziellen Auswirkungen auf den EU-Agrarhaushalt werden als gering eingestuft. Die Briten finanzieren zehn Prozent des EU-Gesamthaushalts. Am Budget für die Landwirtschaft haben sie aber nur einen Anteil von fünf Prozent. Das liegt am „Britenrabatt“, der 1984 als Bedingung für den Beitritt ausgehandelt wurde. Deshalb zahlt London 14 statt 20 Mrd. Euro in den EU-Agrarhaushalt ein und bekommt 7 Mrd. Euro an Agrarzahlungen heraus. Der Austritt schafft also eine Finanzierungslücke von 7 Mrd. Euro.

Hogan: rasch verhandeln
Nach dem Votum der britischen Bevölkerung hat die EU-Kommission eine rasche Aufnahme von Verhandlungen mit London angekündigt. EU-Agrarkommissar Phil Hogan schloss sich der Forderung von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an, dass jetzt zügig und entschieden der Austritt und die künftigen Beziehungen zwischen London und der EU verhandelt werden müssten. Es sei wichtig, für „Klarheit und Stabilität im Block der 27 verbleibenden EU-Länder zu sorgen“, betonte Hogan.

Der britische Bauernverband (NFU), der eine Kampagne für den Verbleib in der EU geführt hatte, fordert von der Londoner Regierung, sich für einen „bestmöglichen Zugang zum europäischen Markt“ einzusetzen. In Frankreich forderte der Bauernverband (FNSEA) eine Auseinandersetzung darüber, welches Europa und welche Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) es künftig geben solle. Das Votum für einen Brexit zeige, dass es bei den Erwartungen der Bürger und der europäischen Institutionen eine Spaltung gebe. „Es ist daher unerlässlich, unsere Verbindung zur EU zu überdenken und dem europäischen Projekt den demokratischen Sinn zurückzugeben“, so der FNSEA.

„Mit allergrößter Sorge“
Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Joachim Rukwied, wies in einer ersten Reaktion darauf hin, dass Europa nicht nur einen gemeinsamen Markt darstelle, sondern politische Verpflichtung und Verantwortung zugleich sei. Die deutschen Bauernfamilien betrachteten den britischen Entschluss daher „mit allergrößter Sorge um die Stabilität und Einigungskraft der Gemeinschaft“.
Rukwied nannte es „mehr als bedauerlich, dass die europäische Idee durch populistische Kampagnen in so großem Maß Schaden nehmen konnte“. Auch wenn in erster Linie die britische Bevölkerung, darunter auch die dortigen Landwirte, die wirtschaftlich Leidtragenden sein würden, verbleibe doch der politische und gesellschaftliche Schaden bei der gesamten EU.
„Politisch brauchen wir so schnell wie möglich Klarheit, wo jetzt die Reise hingehen soll; im Handel sind lange Übergangsfristen nötig und wohl auch zu erwarten“, erklärte DBV-Generalsekretär Bernhard Krüsken am Dienstag in Hannover auf Nachfrage der LAND & Forst.
ste/AgE/PI

Nr. 2 im Export Niedersachsens Handel

Großbritannien ist nach den Niederlanden das zweitwichtigste Zielland niedersächsischer Exportgüter. Laut dem Landesamt für Statistik wurden 2015 Waren im Wert von mehr als sieben Milliarden Euro auf die Insel exportiert. Mit 3,6 Milliarden Euro entfiel der größte Anteil auf den Straßenfahrzeugbau inklusive Kfz-Teile. Mit weitem Abstand, aber bereits auf Platz zwei folgen Fleisch und Fleischwaren (320 Mio. Euro) vor Geräten für die Elektrizitätserzeugung und -verteilung (250 Mio. Euro).

Auch beim Import ist Großbritannien bisher ein bedeutender Handelspartner für Niedersachsen und belegt den sechsten Rang. Das Landesamt beziffert die importierten Waren im Jahr 2015 auf einen Gesamtwert von 3,3 Mrd. Euro. 31 % der Importe betrafen Erdöl und Erdgas, 14 % Straßenfahrzeuge und -komponenten, knapp neun Prozent chemische Produkte.
red